Hintergrundtext

Antisemitismus und Nazi-Vergangenheit

Was ist der Holocaust?

Die deutschen Nationalsozialist:innen und ihre Verbündeten ermordeten 6 Millionen Jüdinnen:Juden in Europa. Dieser Massenmord wird Holocaust oder Shoah genannt. Er war geplant und wurde systematisch durchgeführt. Viele der Opfer wurden in Vernichtungslagern wie Auschwitz oder bei Massenerschießungen ermordet. Der Holocaust war nicht einfach die Tat von Hitler und einiger weniger Nazis. Große Teile der deutschen Bevölkerung waren an den Verbrechen beteiligt oder ließen sie einfach geschehen. Bis zuletzt konnte das Nazi-Regime auf die Unterstützung der Mehrheit der Deutschen zählen. Besiegt wurde Nazi-Deutschland durch die Armeen der Länder, die es angegriffen hatte, sowie deren Verbündete. Nach Kriegsende folgten einige Jahre der militärischen Besatzung. Die Besatzungsmächte leiteten schließlich die Gründung von zwei deutschen Staaten in die Wege: die Bundesrepublik Deutschland im Westen und die DDR im Osten. 

Wie wurde nach dem Ende der NS-Herrschaft mit den Täter:innen umgegangen?

Ein Großteil der Menschen, die am Holocaust und anderen nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt waren, wurden nie bestraft. Im Westen machten die Besatzungsmächte zwar kurz nach Kriegsende einigen der obersten Nazivertreter den Prozess, bald ging man aber wieder zur Tagesordnung über. Erst Jahrzehnte später wurde sehr zögerlich erneut damit begonnen, weitere NS-Verbrecher:innen vor Gericht zu stellen. Die meisten aber blieben unbehelligt und konnten ein ganz normales Leben weiterführen und sogar Karriere machen. 

In Ostdeutschland ging man anfangs deutlich rigoroser gegen Naziverbrecher:innen vor. Trotzdem konnten auch hier einige von ihnen ungestört ihr Leben leben. Nach einigen Jahren wurde das NS-Kapitel dann für endgültig erledigt erklärt. Es wurde einfach behauptet, es gäbe in der DDR keine Täter:innen mehr. Wer bis dahin nicht belangt worden war, hatte nichts mehr zu befürchten. 

Wie entwickelte sich Antisemitismus nach dem Ende der NS-Herrschaft?

Mit dem Nazi-Regime war Antisemitismus nicht einfach verschwunden. Und zwar in keinem der zwei deutschen Staaten. Offiziell waren jetzt zwar fast alle gegen Antisemitismus, hinter vorgehaltener Hand wurde er aber weiterhin geäußert. Viele griffen jetzt eher auf Andeutungen und andere verdeckte Wege zurück, um ihre antisemitischen Einstellungen auszudrücken. Zu den alten Formen des Antisemitismus, die weiterhin existierten, kamen neue hinzu. Insbesondere zwei Themen wurden auffallend häufig dazu genutzt, um Antisemitismus zu äußern: Israel und die Erinnerung an den Holocaust.

Was steht hinter Antisemitismus mit Holocaust-Bezug?

Die meisten Deutschen wollten die Erinnerung an den Holocaust verdrängen. Schließlich hatten sie mitgemacht oder weggeschaut und sich häufig am Hab und Gut der Ermordeten bedient.  Viele nicht-jüdische Deutsche fühlten sich schon durch die bloße Existenz von Jüdinnen:Juden an ihre Verbrechen erinnert. Das weckte bei ihnen ungute Gefühle wie Scham oder ein schlechtes Gewissen. 

Gefühle lassen sich nicht einfach verdrängen, meistens kommen sie in anderer Form wieder hoch. In diesem Fall verwandelten sich die unangenehmen Gefühle in Aggressionen – und diese richteten sich gegen Jüdinnen:Juden. In den Köpfen der Menschen hatte sich die Gedankenverbindung „Juden → Holocaust“ festgesetzt. Schon die Existenz von Jüdinnen:Juden „störte“ also beim Verdrängen. 

Der beschriebene psychische Mechanismus führte zu einer Verstärkung des Antisemitismus. Und zu einer ganz neuen Art des Antisemitismus. In der Forschung gibt es einen Fachbegriff für den Antisemitismus, der sich aus einer Abwehr der Erinnerung an den Holocaust speist: Man spricht von Sekundärem Antisemitismus. „Sekundär“ bedeutet hier, dass zu den ursprünglichen Formen von Antisemitismus eine weitere Ebene hinzugekommen ist.

Wie kann die Erinnerung an den Holocaust immer noch Aggressionen hervorrufen?

Der Nationalsozialismus und der Holocaust rücken in immer weitere Ferne. Es gibt nicht mehr viele Menschen, die das Geschehene miterlebt haben. Auch die Täter:innen sind wenige geworden. Trotzdem findet sich diese Abwehrreaktion auch bei heutigen Generationen. Denn wer will schon den geliebten Vater oder die liebe Großmutter, ja überhaupt die eigenen Vorfahren, in einem so schlechten Licht dastehen sehen. Aber auch ohne einen offensichtlichen familiären Bezug hält sich diese Form des Antisemitismus hartnäckig. Denn wer in Deutschland lebt, wünscht sich oft einen durchweg positiven und ganz unbeschwerten Bezug zum eigenen Land. Von dem Massenmord an jüdischen Menschen, der von den deutschen Nationalsozialist:innen begangen wurde, wollen viele da lieber nichts wissen. Denn die Erinnerung stört das positive Deutschland-Bild, das sie gerne hätten. 

Immer noch sind also psychische Mechanismen wirksam, die zu einer Verdrängung der Erinnerung an den Holocaust führen. Und immer noch gibt es Leute, die sich durch die Existenz von Jüdinnen:Juden beim Verdrängen gestört fühlen. Ihre Wut darüber, dass sich ein millionenfacher Massenmord nicht so leicht vergessen lässt, wie sie es gerne hätten, richtet sich als antisemitischer Hass gegen Jüdinnen:Juden. Statt sich kritisch mit der Nazi-Vergangenheit auseinanderzusetzen, werden alle unangenehmen Gefühle bei den Nachfahren der Opfer abgeladen.

Antisemitismus, der sich auf den Holocaust bezieht, gehört heute zu den am weitesten verbreiteten Formen von Antisemitismus.

Wie äußert sich Antisemitismus mit Holocaust-Bezug?

Antisemitismus mit Holocaust-Bezug liegt vor, wenn der systematische Massenmord abgestritten oder kleingeredet wird. Wer einfach so tut, als hätte es das millionenfache Leiden und Sterben gar nicht oder nicht in diesem Ausmaß gegeben, verhöhnt die Opfer und tut ihnen ein zweites Mal Gewalt an.

Zu den weit verbreiteten Formen dieses Antisemitismus gehört auch die Behauptung, Jüdinnen:Juden seien an ihrer Verfolgung mitschuldig gewesen. „Irgendetwas müssen sie doch getan haben“ – so lautet der antisemitische Verdacht. Indem den Opfern eine Mitschuld angedichtet wird, werden die Täter:innen entlastet.

Häufig lassen sich beim Antisemitismus mit Holocaust-Bezug solche Formen der sogenannten Täter-Opfer-Umkehr beobachten. Das heißt: Jüdinnen:Juden werden als schuldige Täter:innen dargestellt, die nicht-jüdische deutsche Bevölkerung als unschuldiges Opfer. 

Antisemitismus mit Holocaust-Bezug wird auch mit älteren judenfeindlichen Vorurteilen kombiniert. Zum Beispiel mit dem antisemitischen Vorwurf, dass Jüdinnen:Juden gerissen und geldgierig seien. Sichtbar wurde das vor allem im Zusammenhang mit den Entschädigungszahlungen, die die Bundesrepublik einigen Opfern des Nationalsozialismus zusprach. Obwohl diese Zahlungen oft sehr dürftig ausfielen und nicht einmal ansatzweise dem Schaden an Gesundheit oder Eigentum jüdischer Opfer gerecht wurden, kursierten antisemitische Vorwürfe: Angeblich würden Jüdinnen:Juden sich an den Entschädigungen bereichern. Dazu würden sie das schlechte Gewissen der Deutschen ausnutzen.

Gibt es Antisemitismus mit Holocaust-Bezug nur in Deutschland?

Die Abwehr der Erinnerung an den Holocaust spielt in Deutschland eine besondere Rolle. Schließlich wurde der Massenmord von hier aus geplant und dirigiert und unzählige Deutsche waren darin verstrickt.

Aber auch außerhalb Deutschlands wird in antisemitischen Aussagen sehr häufig auf den Holocaust Bezug genommen. Antisemit:innen auf der ganzen Welt neigen dazu, die Erinnerung an den Holocaust abzulehnen. Denn das Gedenken an den Holocaust stellt sich für sie wie ein Vorwurf dar.

Schließlich hat der nationalsozialistische Massenmord an den europäischen Jüdinnen:Juden gezeigt, was für eine mörderische Ideologie Antisemitismus ist. Und nicht alle, die antisemitisch denken, wollen direkt mit Mord und Totschlag in Verbindung gebracht werden.

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