Antisemitische Vorurteile
Was haben antisemitische Vorurteile mit Gerüchten zu tun?
Der Sozialwissenschaftler Theodor W. Adorno nannte Antisemitismus einmal „das Gerücht über die Juden“. Denn ein Gerücht verändert sich beim Weitererzählen, es wird ausgeschmückt und angepasst. Und es bleibt immer etwas davon hängen, auch wenn schon längst bewiesen ist, dass das Gerücht frei erfunden war. Beides gilt auch für Antisemitismus.
Die Vorurteile gegen Jüdinnen:Juden, die heute in der Welt herumgeistern, gibt es schon seit Jahrhunderten. Das heißt aber keineswegs, dass etwas Wahres daran ist. Es zeigt vielmehr, wie tief Antisemitismus in unserer Gesellschaft verankert ist und wie anpassungsfähig er ist. Denn die alten Vorurteile verändern immer mal wieder ihre Form. Sie werden modernisiert, das heißt: Der im Grunde gleiche Inhalt wird für neue gesellschaftliche Umstände passend gemacht.
Was sind Beispiele für antisemitische Vorurteile?
Zu den hartnäckigen antisemitischen Vorurteilen gehören unter anderem die Behauptungen, Jüdinnen:Juden seien
- bösartig und blutrünstig
- geschäftstüchtig, geldgierig und reich
- mächtig und untereinander verschworen, mit dem Ziel, im Geheimen die Weltherrschaft an sich reißen
- fremdartig und nicht zur deutschen Nation gehörig
- besonders intelligent, gerissen und berechnend
Vorurteil „Bosheit“
Der Vorwurf einer angeblichen Boshaftigkeit von Jüdinnen:Juden gehört zu den Grundlagen des Antisemitismus. Er lässt sich bis in die Entstehungszeit der christlichen Religion zurückverfolgen.
Die ersten Christ:innen waren eine Gruppierung, die aus dem Judentum hervorgegangen war. Je stärker sie wurden, desto mehr wollten sie ihre Eigenständigkeit beweisen und sich von der jüdischen Religion abgrenzen. Das trug zu einer judenfeindlichen Haltung bei, die ihren extremen Ausdruck im „Gottesmordvorwurf“ fand: Die kirchlichen Gelehrten behaupteten, Jüdinnen:Juden seien für den Tod von Jesus verantwortlich. In Wirklichkeit hatten ihn die römischen Machthabenden hinrichten lassen. Da Jesus im christlichen Glauben eine Einheit mit Gott bildet, galten Jüdinnen:Juden als „Gottesmörder“. Und zwar allesamt für immer und ewig.
Im Mittelalter wurde der „Gottesmordvorwurf“ mit neuen Gerüchten ausgeschmückt. Man erzählte sich Geschichten davon, dass Jüdinnen:Juden heilige Hostien durchbohren und bluten lassen würden, um so den Mord an Jesus immer wieder durchzuspielen („Hostienfrevel“). Weitere Fantasiegeschichten über Jüdinnen:Juden machten die Runde: Sie würden angeblich christliche Kinder töten, um ihr Blut für magische Rituale zu benutzen („Ritualmordlegende“).
Auch heute noch ist der Vorwurf der Bösartigkeit zentraler Bestandteil von antisemitischen Verschwörungstheorien. Das zeigt sich besonders deutlich bei der QAnon-Verschwörungstheorie. Die QAnon-Anhänger:innen glauben, dass eine geheime Gruppe massenhaft Kinder entführt, foltert und tötet. Dem angeblichen Geheimbund rechnen sie auffällig viele Jüdinnen:Juden zu.
Vorurteil „Reichtum“
Genauso grundlegend wie die Unterstellung von Boshaftigkeit ist im Antisemitismus die Vorstellung, dass Jüdinnen:Juden in besonderem Maße mit Geld verbunden seien. Sie seien besonders geschäftstüchtig, reich oder geldgierig.
Zum geschichtlichen Hintergrund dieses Vorurteils gehört die Haltung der christlichen Kirche des Mittelalters zum Geldhandel. In den Augen der Kirchenvertreter galt es als Sünde, Geld gegen Zinsen zu verleihen. Für das Funktionieren der Wirtschaft war diese Tätigkeit aber notwendig.
Christ:innen betrieben Geldhandel trotz der moralischen Verurteilung durch die Kirche. Auch Jüdinnen:Juden waren in diesem Wirtschaftszweig tätig. Für sie galten die religiösen Vorschriften der Kirche ohnehin nicht und zudem war ihnen der Zugang zu vielen anderen Berufen erschwert. Reich wurden die Jüdinnen:Juden in diesem Beruf nicht, auch wenn das immer wieder behauptet wird. Wie ein Großteil der jüdischen Bevölkerung waren auch viele der Geldverleiher:innen bitterarm.
Von der christlichen Gesellschaft wurden Jüdinnen:Juden zum Sinnbild des Geldverleihs gemacht. So hatte man einen Sündenbock, an dem man in wirtschaftlichen Krisenzeiten Hass und Frust ablassen konnte.
Das mittelalterliche Stereotyp vom „jüdischen Geldverleiher“ wurde im 19. Jahrhundert modernisiert und ausgeweitet: Jetzt wurden Jüdinnen:Juden für Finanz- und Wirtschaftskrisen und alle Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems verantwortlich gemacht.
Auch heute lebt das Vorurteil weiter. Umfragen offenbaren: Etwa ein Viertel der Deutschen unterstellt, dass Jüdinnen:Juden „reicher als der Durchschnitt der Deutschen“ seien oder „zu viel Macht in der Wirtschaft und im Finanzwesen“ hätten (AJC-Studie 2022). Gerade bei Anhänger:innen von Verschwörungstheorien stehen solche antisemitischen Vorurteile hoch im Kurs: Hinter allen möglichen Übeln der Welt wird eine „jüdische Finanzelite“ vermutet.
Vorurteil „Weltverschwörung“
Antisemitismus ist eine der ältesten und am weitesten verbreiteten Verschwörungstheorien. Ein zentrales antisemitisches Vorurteil ist das Gerücht einer „jüdischen Weltverschwörung“: In den Augen von Antisemit:innen sind Jüdinnen:Juden nicht nur als Einzelne böse und reich, sondern auch noch untereinander verschworen. Angeblich streben sie im Geheimen nach der Weltmacht und wollen der Menschheit schaden.
Vorläufer solcher Ideen gab es schon im Mittelalter. Damals wurde Jüdinnen:Juden vorgeworfen, dass sie durch das Vergiften von Brunnenwasser die Pest verursachen würden. Ihr Ziel sei es, die Christenheit zu vernichten. Im modernen Antisemitismus wurde die Fantasie einer „jüdischen (Welt-)Verschwörung“ zu einem Kernstück des Hasses.
Auch die Corona-Pandemie von 2020 wurde als Gelegenheit genutzt, um alte antisemitische Mythen wieder aufzuwärmen. An die Stelle des Brunnenwassers trat diesmal die Impfung: Angeblich wollten Jüdinnen:Juden durch den neu entwickelten Corona-Impfstoff Menschen töten.
Vorurteil „Fremdheit“
Seit etwa 1700 Jahren sind Jüdinnen:Juden in den Gebieten zuhause, die heute Deutschland bilden. Trotzdem gehören sie für Menschen, die antisemitisch denken, nicht richtig dazu. Sie werden als irgendwie fremd und anders angesehen.
Im christlich geprägten Mittelalter wurden sie aufgrund ihrer Religion ausgeschlossen. Als Religion in der modernen Gesellschaft immer mehr zu einer Privatsache wurde, fand man eine andere Begründung. Man behauptete, jüdische Deutsche wären keine richtigen Deutschen. Sie wären eine Gruppe für sich, die nicht zur deutschen Nation passen würde.
Auch heute werden jüdische Deutsche von einigen Menschen als nicht wirklich zugehörig angesehen. Angeblich wäre ihre Heimat nicht Deutschland, sondern Israel – ganz egal, welche Staatsbürgerschaft sie besitzen oder wo ihre Familie herkommt.
Vorurteil „Intelligenz“
Das Vorurteil, dass Jüdinnen:Juden besonders intelligent wären, setzte sich im 19. Jahrhundert durch. Es stand im Zusammenhang mit dem Aufkommen einer „Rassenlehre“, also rassistischer Theorien: Diese behaupteten, dass sich Jüdinnen:Juden biologisch von anderen Menschen unterscheiden würden. Auch die angebliche besondere Intelligenz von Jüdinnen:Juden wurde auf diese vermeintlichen biologischen Unterschiede zurückgeführt. Darüber hinaus wurde sie meist negativ gewertet: Es sei eine gerissene und kalt berechnende Intelligenz, die Jüdinnen:Juden für Betrug und Bereicherung nutzen würden.
Zwar werden solche negativen Bewertungen heute seltener geäußert. Die Idee, dass Jüdinnen:Juden besonders intelligent wären, geistert aber immer noch herum.
Warum sind die antisemitischen Vorurteile so hartnäckig?
Antisemitismus ist deshalb so schwer aus der Welt zu schaffen, weil die Menschen sich damit das Leben leicht machen können. Die Menschen können es sozusagen zu ihrem Vorteil nutzen, antisemitisch zu denken.
„Jüdinnen:Juden sind an allem schuld, was in der Welt schiefläuft“ ist zum Beispiel eine sehr einfache Erklärung für eigentlich komplizierte und verwirrende Dinge. Und eine einfache Erklärung kann ein beruhigendes Gefühl der Orientierung und des Durchblicks bieten.
Manche Menschen fühlen sich zudem als etwas Besseres, wenn sie andere abwerten: Sie werten auf Kosten anderer das eigene Selbstwertgefühl auf.
Durch den Ausschluss der Jüdinnen:Juden kann in der übrigen Gesellschaft ein Gefühl vermeintlicher Zusammengehörigkeit entstehen, selbst wenn sie eigentlich gar nicht so viel miteinander gemeinsam hat.
Diese Mechanismen bringen im Endeffekt aber für niemanden etwas wirklich Erstrebenswertes mit sich. Antisemitismus ist immer zerstörerisch. Er tut den Betroffenen Gewalt an und auch die Gesellschaft an sich nimmt Schaden: Vorurteile, Hass, Ausschluss und Diskriminierung sind keine Grundlage für ein gutes Zusammenleben.