Hintergrundtext

Antisemitismus

Was ist Antisemitismus?

Antisemitismus ist ein anderes Wort für Judenfeindschaft. Solche feindseligen Wahrnehmungsmuster, Gefühle und Einstellungen gegenüber Jüdinnen:Juden äußern sich unterschiedlich. Sie treten offen in Form von Beleidigung oder als körperliche Gewalt bis hin zu Mord, Terror und Vernichtung auf. Sie können sich aber auch unterschwellig ausdrücken: als beiläufige Bemerkung, vermeintlicher Witz oder auch als scheinbar positive Zuschreibung. Jede dieser Formen von Antisemitismus hat direkte Auswirkungen auf jüdische Menschen und richtet sich gegen gesellschaftliche Grundwerte wie Gleichberechtigung und Menschenwürde.

Antisemitismus ist in Deutschland weit verbreitet. Im Rechtsextremismus genauso wie im Islamismus gehört er zu den ideologischen Grundpfeilern. Laut repräsentativer Umfragen des Jüdischen Weltkongresses haben etwa 20–25 Prozent der Deutschen antisemitische Ansichten, das heißt jede:r Vierte bis Fünfte. Einzelne antisemitische Vorstellungen sind noch deutlich weiter verbreitet. Umfragen zeigen auch, dass es solche Haltungen nicht nur am Rand der Gesellschaft gibt. Sie sind in ganz unterschiedlichen politischen Milieus und in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden. Antisemitismus ist tief in der Gesellschaft verankert.

Zum Grundmuster von Antisemitismus gehört es, dass Jüdinnen:Juden als einheitliche Gruppe wahrgenommen werden. Aus Millionen von verschiedenen Individuen werden so „die Juden“ gemacht. Ihnen werden bestimmte, meist negative Eigenschaften angedichtet. Zu den typischen antisemitischen Zuschreibungen gehören zum Beispiel Geldgier, Treulosigkeit, Falschheit, Rachsucht und ganz allgemein Bösartigkeit. Grundsätzlich wird behauptet „die Juden“ seien irgendwie anders als der Rest der Menschheit. Es gibt auch eigentlich positive Eigenschaften, die „den Juden“ zugeschrieben werden, z. B. Intelligenz und Schlauheit. Auch hier werden Jüdinnen:Juden als einheitliche Gruppe begriffen. Das Lob angeblicher jüdischer Intelligenz kann zudem schnell in die Unterstellung von Hinterlist und Gerissenheit umschlagen.

Zu den zentralen antisemitischen Stereotypen gehört die Behauptung, dass Jüdinnen:Juden reich und mächtig seien. Sie gelten also nicht nur als minderwertig, sondern zugleich als überlegen und bedrohlich. Mehr noch: Als angebliche Strippenziehende im Geheimen werden sie hinter allen gesellschaftlichen Entwicklungen vermutet, mit denen man unzufrieden ist. Das können wirtschaftliche Krisen, Armut, Kriege, politischer Zerfall, Pandemien sein. Aber auch eigentlich positive gesellschaftliche Entwicklungen, die einem nicht in den Kram passen. Antisemitismus ist damit mehr als eine Ansammlung von Vorurteilen gegen Jüdinnen:Juden. Er ist auch eine Weltanschauung, die in „den Juden“ die Ursache für alle möglichen Probleme und Entwicklungen der modernen Welt sieht.

Warum gibt es Antisemitismus?

Antisemitismus hat nichts damit zu tun, was Jüdinnen:Juden tun oder lassen. Ob eine jüdische Person nun arm oder reich, schlau oder dumm, nett oder gemein ist – wer antisemitisch eingestellt ist, wird immer eine Bestätigung für seine feindselige Haltung finden. Was nicht passt, wird passend gemacht. Das wird schon allein dadurch deutlich, dass Jüdinnen:Juden vollkommen widersprüchliche Dinge vorgeworfen werden. So sollen sie sowohl hinter dem Kapitalismus als auch hinter dem Kommunismus stecken – zwei Gesellschaftssysteme, die einander absolut entgegengesetzt sind.

Um zu verstehen, warum es Antisemitismus gibt, muss man sich die Leute anschauen, die antisemitisch denken. Denn Antisemitismus bringt bestimmte „Vorteile“ mit sich: Er kann für eine Einzelperson, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene bestimmte Funktionen erfüllen. Ein einfaches Beispiel: Wer Jüdinnen:Juden abwertet und als moralisch minderwertig darstellt, kann sich selbst als etwas Besseres fühlen. 

Es gibt aber auch kompliziertere psychische Mechanismen, die hinter Antisemitismus stehen können. Man kann beispielweise beobachten, dass Jüdinnen:Juden Dinge angedichtet werden, die viele selbst gerne hätten. In der Psychologie nennt man einen solchen Vorgang Projektion. Das gilt zum Beispiel für die antisemitische Behauptung, dass Jüdinnen:Juden gut mit Geld umgehen könnten und sich bereichern würden. Mit der Realität hat diese Vorstellung nichts zu tun. Hinter diesem Vorurteil steht vielmehr der eigene Traum von Reichtum ohne mühevolle Arbeit: eine Wunschvorstellung, die für die meisten Menschen unerreichbar ist. Die Unerfüllbarkeit des Wunsches ruft Wut hervor. Diese Wut wird gegen die angeblich „reichen Juden“ gerichtet und findet so ein Ventil.

Besonders bedeutend für die Anziehungskraft von Antisemitismus ist die Tatsache, dass er als einfache Erklärung für komplexe Probleme genutzt werden kann, ja für alles, was in der Welt missfällt. Man sagt: Antisemitismus hat die Funktion einer Welterklärung. Statt sich mit den vielschichtigen Fragen auseinanderzusetzen, die sich in einer modernen und vernetzten Gesellschaft stellen, hat man im antisemitischen Denken eine eingängige Antwort: „Die Juden sind schuld.“ So kann man der unangenehmen Tatsache entgehen, dass es oft keine simple Erklärung, geschweige denn eine einfache Lösung für gesellschaftliche Fehlentwicklungen gibt.

Seit wann gibt es Antisemitismus?

Antisemitismus hat eine lange Geschichte. Bereits in der Antike gab es Anfeindungen gegen Jüdinnen:Juden, die anders als ihre Umwelt an nur einen Gott glaubten. Die Wurzeln des heutigen Antisemitismus liegen aber eher in der christlichen Judenfeindschaft begründet. Das Christentum ist aus dem Judentum heraus entstanden. Die Vertreter der frühen Kirche wollten sich mit aller Macht von ihrer „Mutterreligion“, dem Judentum, abgrenzen und ihren eigenen Glauben als einzige Wahrheit durchsetzen. Sie verteufelten Jüdinnen:Juden und erfanden Geschichten über ihre angebliche Bösartigkeit. Viele antisemitische Vorurteile, die es heute noch gibt, haben ihren Ursprung in der jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft. Sie haben sich über die Zeit tief in die Köpfe der Menschen eingegraben.

Mit dem Aufkommen der modernen Gesellschaft im 19. Jahrhundert nahm auch die Judenfeindschaft neue Formen an. Grundlegende wirtschaftliche Neuentwicklungen, wie die Industrialisierung, und politische Umbrüche, wie die Entstehung moderner Nationalstaaten, hatten die alte gesellschaftliche Ordnung in Europa zerstört. Die moderne, kapitalistische Welt war komplizierter als die alte. Viele Menschen fühlten sich verunsichert und suchten nach einfachen Erklärungen für die Probleme und Ungerechtigkeiten der neuen Gesellschaftsform. Einige glaubten, in den seit Jahrhunderten verteufelten Jüdinnen:Juden die Schuldigen erkannt zu haben. Alte judenfeindliche Vorurteile wurden an die veränderte gesellschaftliche Situation angepasst und durch neue ergänzt. Typisch für den sogenannten modernen Antisemitismus wurde die Wahnvorstellung von einer „jüdischen Weltverschwörung“, die angeblich die Ursache aller Probleme der heutigen Welt sei. Gleichzeitig setzten sich neue Begründungen für Judenfeindschaft durch. Zum religiösen Hass kam jetzt die Behauptung hinzu, Jüdinnen:Juden seien ein Fremdkörper in der Nation und eine andere „Rasse“. Im Nationalsozialismus wurde Antisemitismus zum Staatsprogramm und mündete in einen unvorstellbaren Massenmord – dem Holocaust.

Antisemitismus hat seine zentralen Wurzeln in Europa: Er hat sich über die Jahrhunderte auf andere Kontinente ausgebreitet, wurde an örtliche Gegebenheiten angepasst und existiert inzwischen auf der ganzen Welt. Er ist hartnäckig und erstaunlich anpassungs- und wandlungsfähig. Das muss aber nicht für immer so bleiben. Wir alle können etwas dafür tun, dass er nicht länger von Generation zu Generation weitergetragen wird.

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